Das digitale Bildungsmaterial „Demokratie im Krisenmodus?“
als Beispiel für eine politische Demokratiepädagogik

Von Josef Blank und Sappho-Ariane Beck

Das Bildungsmaterial „Demokratie im Krisenmodus?“ ist eine 90 bis 180 Minuten umfassende Unterrichtssequenz. Sie ist vollständig digital und kann im Präsenzunterricht, per Videokonferenz oder in hybriden Settings eingesetzt werden. Die Schüler*innen tauschen sich über die Corona-Krise aus und diskutieren ihre negativen wie positiven Auswirkungen auf die Menschen, die Gesellschaft und die Demokratie. Darauf aufbauend entwickeln sie Zukunftsperspektiven und erkunden Handlungsoptionen zur Mitgestaltung der Zukunft.

 

 

Nach der Corona-Krise in eine ungewisse Zukunft

Geteilte Klassen, Risikopatient*innen unter Lehrkräften und Schüler*innen, temporäre Schulschließungen. Die Corona-Krise wird Lehrkräfte und Schüler*innen noch eine ganze Weile und in vielerlei Hinsicht beschäftigen: organisatorisch, weil sie zu einem flexiblen Wechsel zwischen Homeschooling, Fern-und Präsenzunterricht zwingt; inhaltlich, weil die Fragen rund um eine „neue Normalität“ uns als Menschen und als Gesellschaft tief berühren; pädagogisch, weil sich die Antworten auf die Frage nach dem, was wichtig ist, verändern und verschieben. Allzu oft blieb in den ersten Monaten der Corona-Krise vor lauter Veränderungen, Hygienekonzepten, technischen und organisatorischen Herausforderungen keine Zeit für das soziale Element des Lernens, für das Diskutieren und Abwägen, das Austauschen und Reflektieren.

Das Bildungsmaterial „Demokratie im Krisenmodus? Von Risiken und positiven Nebenwirkungen von Greenpeace soll einen Raum für die Schüler*innen eröffnen, in dem sie die Erfahrungen aus der Corona-Krise reflektieren und darüber diskutieren können, welche Veränderungen sie in Bezug auf die Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Regierungsform auslöst.

Denn auch wenn die Zeiten der flächendeckenden Schulschließungen, Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen zumindest vorerst und an den meisten Orten in Deutschland langsam zu Ende gehen, bleibt doch eine große Unsicherheit zurück. Ist die Krise vorbei oder kommen neue Infektionswellen? Wie verändern die Entscheidungen und Erfahrungen aus der Corona-Krise das Zusammenleben, die Schule, die Gesellschaft und die Demokratie? Geht es bald weiter wie bisher oder wird in Zukunft alles anders?

Die Krise als mehrfache Lerngelegenheit

Aus den Perspektiven der Demokratiepädagogik und der Bildung für Nachhaltige Entwicklung bieten diese zahlreichen, sich überlagernden Ambiguitäten zwei wichtige und seltene Lerngelegenheiten:

  • Die Auswirkungen der Einschränkungen auf das demokratische Zusammenleben und die Demokratie selbst werfen unzählige Fragen auf, die noch vor einem Jahr gar nicht zur Debatte standen. Deshalb bringt die Krise die Chance mit sich, grundlegend über Fragen von Zusammenleben und Gesellschaft, Demokratie und Politik, von Staat und Wirtschaft zu diskutieren und dadurch das individuelle Demokratieverständnis der Schüler*innen zu stärken.
  • Die Krise eröffnet zugleich die Notwendigkeit wie auch zahlreiche Möglichkeiten, demokratische Schlüsselkompetenzen und Überzeugungen der Schüler*innen zu stärken, von denen entscheidend abhängt, wie sie mit den Unsicherheiten und Ambiguitäten der Corona-Krise umgehen und diese bewältigen kö

Risiken und positive Nebenwirkungen für Demokratie und Gesellschaft

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und die dadurch erzwungenen Veränderungen bringen einerseits Risiken für die Demokratie mit sich. Die Einschränkung von Grundrechten und zivilgesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten, die Ausweitung der Exekutivrechte, die Folgen für die transnationalen Institutionen sind nur einige der zahlreichen Beispiele.

Andererseits hat die Krise positive Nebenwirkungen und eröffnet Chancen, auch andere Krisen wie die Klimakrise entschieden anzugehen. Die Ambiguität der aktuellen Situation und die daraus erwachsende Unsicherheit ist aber auch ein Nährboden für populistische und damit vereinfachende Antworten auf komplexe Herausforderungen und Fragen.

Die nahezu gleichzeitige Reaktion unterschiedlicher Regierungen, Regierungssystemen und Gesellschaften mit ganz verschiedenen Strategien und Ansätzen bringt die Chance mit sich, die Entwicklungen der Länder miteinander zu vergleichen und zu kontrastieren.

Das Bildungsmaterial „Demokratie im Krisenmodus?“ soll Lehrkräften wie Schüler*innen Anregungen und Anstöße geben, sich mit diesen Fragen diskussions- und handlungsorientiert auseinanderzusetzen.

Stärkung von Resilienz, Ambiguitätstoleranz und Selbstwirksamkeit

Wie gut die Schüler*innen mit der Krise zurecht kommen, hängt von ihren sozialen und familiären Umständen, aber auch von ihren Persönlichkeitseigenschaften, Überzeugungen und Kompetenzen ab. Die Krise eröffnet daher die pädagogische Chance wie die Notwendigkeit, Kompetenzen und Überzeugungen zu stärken, die eine erfolgreiche Krisenbewältigung unterstützen. Das Bildungsmaterial „Demokratie im Krisenmodus?“ soll dazu beitragen, drei davon zu stärken:

Ihre Resilienz beeinflusst stark, wie gut die Schüler*innen mit der Krise, den Einschränkungen und den damit einhergehenden plötzlichen Veränderungen zurecht kommen und wie sehr sie darunter leiden. Das Bildungsmaterial soll deshalb Anstöße geben, auf die Herausforderungen und Veränderungen zurückzublicken, Schwierigkeiten anzuerkennen und die Erfolge, die gefundenen Lösungen, positiven Entwicklungen zu würdigen.

Eine ausgeprägte Ambiguitätstoleranz hilft den Schüler*innen, die durch die Corona-Krise ausgelösten Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Unsicherheiten wahrzunehmen, auszuhalten oder sogar als Chance sehen zu können. Sie ist zugleich ein wesentlicher Schutz vor vereinfachenden Erklärungs- und Bewertungsmustern und Beitrag zur Prävention menschen- und demokratiefeindlicher Einstellungen. Das Bildungsmaterial stellt die Ambiguitäten der Corona-Krise dar und regt die Schüler*innen an, ihre eigenen Wahrnehmungen zu reflektieren und miteinander zu diskutieren. Es zeigt die Zukunft als abhängig von den heutigen Entscheidungen und trägt damit zu einem positiven Reframing der Ambiguitäten bei.

Ihre Selbstwirksamkeitserwartung verändert, ob sich die Schüler*innen den Veränderungen ausgeliefert fühlen oder ob sie Möglichkeiten sehen, selbstständig zu handeln und den Verlauf der Krise, das Umfeld und den eigenen Umgang mit der Krise zu beeinflussen. Gerade bei der Corona-Krise, die bei vielen Menschen zu einem starken Gefühl von Hilf- und Machtlosigkeit führt, ist es wichtig, die Zukunft als gestaltbar zu begreifen. Das Ziel des Bildungsmaterials ist es, den Schüler*innen Raum zur Reflexion und Diskussion der Corona-Krise zu bieten. Durch die Beschäftigung mit ihrer eigenen Wahrnehmung der Krisenzeit und der aktiven Entwicklung verschiedener Zukunfts­szenarien sollen sie entdecken können, dass die Zukunft noch ungeschrieben ist und welche Möglichkeiten sie haben, diese selbst und aktiv mitzugestalten.

Zeit für ein neues Bildungsverständnis

In der bildungspolitischen Diskussion spielen solche Überlegungen bislang allerdings eine untergeordnete Rolle, wie auch die von mittlerweile fast 5.000 Menschen unterzeichnete Petition „Güterabwägung in der Krise“ (http://gueterabwaegung-in-der-krise.de) zurecht kritisiert. Im Zentrum der Debatte stehen vermeintliche Rückstände in „Kernfächern“ wie Mathe, Deutsch und Englisch und wie diese aufgeholt werden können. Der Maßstab, an dem die Lernfortschritte der Schüler*innen gemessen werden, bleibt somit unverändert ein Wissens- und Kompetenzkanon, der sich an den Anforderungen der Welt orientiert, wie sie war oder im besten Fall derzeit gerade noch ist.

Betrachtet man die sich immer weiter beschleunigende technische Entwicklung und Menschheitsherausforderungen wie die Klimakrise, werden die heutigen Schüler*innen in ihrem Leben noch mehrfach mit tiefgreifenden Veränderungen und Umbrüchen konfrontiert werden, gegen die die Corona-Krise möglicherweise als überschaubar erscheinen wird. Resilienz, Ambiguitätstoleranz und Selbstwirksamkeit, demokratische Handlungs- und Aushandlungskompetenzen sowie die Fähigkeit, sich auf neue Umstände einzustellen, könnten vor diesem Hintergrund als Bausteine einer „Weltaneignungs- und Gestaltungskompetenz“ verstanden werden: Die Fähigkeit, sich auf eine sich schnell verändernde Umwelt einstellen und diese aktiv mitgestalten zu können.

Die Corona-Pandemie bietet die Chance, die Stärkung dieser und anderer Persönlichkeitseigenschaften und Schlüsselkompetenzen endlich als zentrale Bildungsziele zu begreifen.

Das Bildungsmaterial „Demokratie im Krisenmodus?“ soll ein kleiner Baustein und Versuch sein zu erkunden, wie die Demokratiepädagogik dazu beitragen kann, Schüler*innen darin zu bestärken, die heute noch unbekannten Anforderungen von morgen nicht nur zu ertragen oder zu bewältigen, sondern einen aktiven Beitrag zur Lösung der Herausforderungen und für eine bessere Zukunft leisten zu können.

Das Bildungsmaterial ansehen und selbst nutzen:

Das Bildungsmaterial „Demokratie im Krisenmodus?“ ist kostenfrei über die Plattform digitalebildung.greenpeace.de verfügbar. Das Begleitmaterial für Lehrkräfte mit einer Vorstellung des Ablaufs kann hier heruntergeladen werden:
https://www.greenpeace.de/sites/www.greenpeace.de/files/publications/gp-demokratie_im_krisenmodus-begleitheft.pdf

Material

Material- und Linksammlungen:

ARBEIT UND LEBEN (2020): Politische Bildung und Corona
https://www.politische-jugendbildung.blog/corona

BAG Politische Bildung (2020): Corona-Krise – Covid-19-Pandemie und ihre Folgen
https://www.politische-bildung.de/coronavirus_covid-19.html

Bundeszentrale für politische Bildung (2020): Die Corona-Krise und ihre Folgen
https://www.politische-bildung.de/coronavirus_covid-19.html

Literaturempfehlungen:

Besand, Anja (2020): Die Krise als Lerngelegenheit
https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/dpb/studium/lehrveranstaltungen/die-krise-als-lerngelegenheit?fbclid=IwAR1bapJkQEt2QHYw_CLdKgcxnuFtLhT69mMQu5F-SbXkypWf4iRj9KfDZIo

Streitbörger, Wolfgang (2020): Ambiguitätstoleranz – Lernen, mit Mehrdeutigkeit zu leben
https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mit-mehrdeutigkeit-zu-leben.976.de.html?dram:article_id=466828

Wohnig, Alexander (2020): Die Corona-Krise und Perspektiven politischer Bildung
https://transfer-politische-bildung.de/fileadmin/user_upload/Fotos/Transfermaterial/Material/wohnig_pbundcorona.pdf

 

Über die Autor*innen

Josef Blank und Sappho-Ariane Beck haben das Material „Demokratie im Krisenmodus?“ für Greenpeace Deutschland entwickelt. Sie unterstützen als beta – Die Beteiligungsagentur seit 2007 Non-Profit-Organisationen und Schulen an der Schnittstelle der Themen Technologie, Demokratie und Pädagogik. Beide engagieren sich ehrenamtlich im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik.