Anja Besand – Inhaberin der Professur für Didaktik der politischen Bildung an der Technischen Universität Dresden – hat uns ihre Überlegungen zur Krise als “Lerngelegenheit” zur Veröffentlichung auf der DeGeDe-Seite zur Verfügung gestellt.

 

In ihrem Beitrag geht sie der Frage nach den pädagogisch didaktischen Kollateral-Effekten der Covid-19-Pandemie nach und macht sichtbar, dass sich im Kontext dieser Krise insbesondere für die politische Bildung gewaltige Chancen aber auch Gefahren ergeben. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet dabei der von John Dewey geprägte Begriff des Kollateralen Lernens. Diesen Begriff wendet sie – Dewey folgend – zunächst auf den Kontext formalisierter Bildungsprozesse an, bevor sie ihn auf informelle Lernprozesse bezieht, wie sie sich im Kontext von politischen und gesellschaftlichen Großereignissen ergeben.

Die Krise als Lerngelegenheit
Oder: Kollaterales politisches Lernen im Kontext der COVID-19 Pandemie

von Anja Besand

Menschen lernen, wenn sie lernen müssen. Dieser – recht schlichte – Satz aus der Mottenkiste der Motivationspsychologie kann unterschiedlich gedeutet werden. Er kann – pädagogisch reaktionär – als ein Argument für Druck, Engführung sowie Disziplinierung durch externe Leistungsanreize in Bildungsprozessen gedeutet werden. Er illustriert umgekehrt aber auch, dass Menschen nur dann wirklich etwas Neues dazu lernen, wenn sie die Notwendigkeit erkennen, sich auf entsprechende Lernprozesse auch wirklich einzulassen. Ich zumindest weiß nach drei Wochen in dem durch die Corona Viruskrise ausgelösten Lockdown plötzlich sehr viel mehr über Virologie und Epidemologie, ich kann mit logarithmischen Skalen umgehen, Brot backen, Nase-Mundschutz-Masken selbst nähen und mit unterschiedlichen Tools Videokonferenzen durchführen und das, obwohl ich gleichzeitig auch gelernt habe, dass keines dieser Tools datenschutzrechtlich unbedenklich wäre. Ich habe also viel gelernt in den letzten drei Wochen – wirklich viel – und so wie mir geht es vielen anderen. Lehrkräfte haben in Windeseile gelernt, Homeschooling-Prozesse zu initiieren und zu steuern, Hochschulen laufen quasi über Nacht volldigital, Ärzte können ihre Wartezimmer so organisieren, dass Patienten kaum noch warten müssen, hochbetagte Senioren können sich mit ihren abwesenden Enkelkindern auf digitalen Plattformen treffen und vieles mehr. Das klingt alles, als ob sich – im Schatten dieser Krise auch Chancen verbergen würden – Disruption als Sprung-Innovation? Werden wir am Ende voller Stolz auf diese Zeit zurückblicken und betrachten, was wir alles geleistet haben? Das scheint mir ein unangemessen romantisches Bild auf das, was im Kontext der Covid-19-Pandemie gegenwärtig an Lern- und Veränderungsprozessen angestoßen wird. Denn – so wie die Krise derzeit läuft – lernen wir auch auf Freiheitsrechte zu verzichten, autoritärer Politik zu vertrauen, nationale Grenzen zu schützen – um nur einige wenige Aspekte anzusprechen. Mit Blick auf die politische Bildung sind die letztgenannten Aspekte bedeutungsvoller als die (zuerst genannten) technischen Fertigkeiten, die sich im Kontext der Krise zu entwickeln scheinen.

In diesem Beitrag möchte ich  deshalb der Frage nach den pädagogisch didaktischen Kollateral-Effekten der Covid-19-Pandemie nachgehen und sichtbar machen, dass sich im Kontext dieser Krise insbesondere für die politische Bildung gewaltige Chancen, aber auch Gefahren ergeben. Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet der von John Dewey geprägte Begriff des Kollateralen Lernens. Diesem Begriff werden wir – Dewey folgend – zunächst im Kontext formalisierter Bildungsprozesse nachgehen, bevor wir ihn auf informelle Lernprozesse beziehen, wie sie sich im Kontext von politischen und gesellschaftlichen Großereignissen ergeben.

Kollaterales Lernen in formalisierten Lernumgebungen

Der Begriff Kollaterales Lernen mag ungewöhnlich klingen, vielleicht sogar martialisch – wir denken an Kollateral-Schäden – ein Begriff aus der Militärsprache, der sich nicht selten auf Opfer bezieht, die im Rahmen einer militärischen Aktion nicht beabsichtigt waren, aber dennoch in Kauf genommen werden. Ein Euphemismus, der Todesopfer verschleiern helfen soll und in Deutschland nicht ohne Grund im Jahr 1999 zum Unwort des Jahres gekürt worden ist. Warum sollte man diesen Begriff ohne Not im Kontext der politischen Bildung verwenden? Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten. Eine naheliegende lautet: Weil wir auch im Kontext der politischen Bildung nicht selten mit unbeabsichtigten Nebenfolgen unserer Arbeit konfrontiert sind, die schwerwiegend sind und wir die ernsthaften Thematisierungen dieser Folgen so gut es geht vermeiden. In der deutschsprachigen Diskussion sprechen wir in diesem Zusammenhang zuweilen vom heimlichen Lehrplan. Auch dieser Begriff weist auf eine Doppelbödigkeit von Bildungsprozessen hin, in denen nicht nur das Offensichtliche, sondern auf einer zweiten Ebene weitere, weniger offensichtliche Lernaufgaben und -ziele bereitgehalten werden.[1]  Doch während der Begriff heimlicher Lehrplan suggeriert, dass auch diese zweite Ebene letztlich institutionell intendiert ist, verweist der Begriff des Kollateralen Lernen von John Dewey darauf, dass mit den offensichtlichen und gewünschten Lernprozessen andere – möglicherweise sogar schädliche – Prozesse verbunden sind und dass wir diese Prozesse in Kauf nehmen, auch wenn wir wissen, dass sie eigentlich nur schwer zu rechtfertigen sind. Dewey schreibt dazu:

“Perhaps the greatest of all pedagogical fallacies is the notion that a person learns only the particular thing he is studying at the time. Collateral learning in the way of formation of enduring attitudes, of likes and dislikes, may be and often is much more important than the spelling lesson or lesson in geography or history that is learned.” (Dewey, Experience and Education, S. 29)

Der Begriff des Kollateralen Lernen leistet – wie wir hier sehen – weit mehr als der des heimlichen Lehrplans. Er öffnet den Blick darauf, dass Lernprozesse grundsätzlich schwer zu steuern sind und ihre Wirkung letztlich immer von der lernenden Person her rekonstruiert werden muss. Dieser Hinweis ist nicht neu (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2015; Besand 2019a). Er wird allerdings vor allem in den pädagogischen Umgebungen vergessen, die wir als formalisierte Umgebungen verstehen, wie beispielsweise die Schule. In der Schule haben wir uns über lange Jahre daran gewöhnt zu denken, dass Schüler*innen lernen, was Lehrpläne vermitteln und über Lehrkräfte als relevante Lerninhalte oder Kompetenzen vorgegeben wird. Obwohl wenig dafür spricht, dass Lernprozesse sich in dieser Weise steuern lassen (und die gesamte lerntheoretische Forschung das Gegenteil beweist), hat sich dieses Alltagsverständnis doch bis heute als erstaunlich stabil erwiesen.

Werfen wir einen Blick auf schulisch politische Bildung, um das zu verdeutlichen:

Ein Blick in die im Rahmen der Landesverfassungen formulierten Bildungsziele macht sichtbar, dass politische Bildung und Demokratievermittlung als zentrale Aufgaben der Institution Schule verstanden werden. Schülerinnen und Schüler sollen sich im Laufe ihrer Schulzeit zu politisch urteils- und handlungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln, grundlegende demokratische Werte verstehen und teilen, sich für andere einsetzen, aktiv erinnern, global denken und lokal handeln, etc. (vgl. Besand 2019a). Die Schule stellt zur Erfüllung dieser Entwicklungsaufgaben vielfältige Strukturen bereit. In aller Regel existiert ein speziell ausgewiesenes Unterrichtsfach, in dem politische Fragestellungen thematisiert und kontrovers verhandelt werden können. Über dieses spezialisierte Fach hinaus wird politische Bildung allerdings auch als Aufgabe der ganzen Schule verstanden, die überfachlich thematisiert und schulorganisatorisch „gelebt“ werden soll. Die Schule als Polis und damit als Erfahrungsraum der Demokratie wird vor allem in den Kontexten stark betont, in denen das Unterrichtsfach zur politischen Bildung mit einer eher geringen Stundenaus­stattung auskommen muss. Typische Argumentationsmuster, die den Zusammenhang sichtbar machen, stützen sich auf die Aussage, dass demokratische Kompetenzen – wenn sie für die lernenden Subjekte bedeutungsvoll werden sollen – erfahren werden müssen und nicht (in einem schlichten Sinn) repetitiv gelernt werden können (vgl. Himmelmann 2007). Es ist deshalb – zugespitzt formuliert – wichtiger, dass die Schule den Schüler*innen vielfältige Partizipations- und Mitgestaltungs­möglichkeiten bietet, als dass stundenlang über Demokratie gesprochen wird. Das schließt auf den ersten Blick eigentlich gut an Deweys Begriff des Kollateral Lernens an. Demokratische Bildung muss – so könnte man meinen – auch demokratisch organisiert sein, wenn sie keine unbeabsichtigten Nebeneffekte bewirken will. Aber ist das wirklich so und wie sieht das aus? Oder – anders formuliert: wie lässt sich diese Verbindung demokratischer Bildungsinhalte und Lernprozesse im Alltag der Schule eigentlich konkret verwirklichen? Verwiesen wird in diesem Zusammenhang zumeist auf die eingeführten Instrumente der Schülermitbe­stimmung, Klassen- und Schülersprecherwahlen, Schulversammlungen etc. Aber sind diese Instrumente frei von kollateralen Effekten? Was lernen Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich als Klassen- und Schülersprecher_innen engagieren? Was wissen wir über die Wirkungen dieser Instrumente?

In der schulpädagogischen Forschung haben sich vor allem Bohnsack und Helsper mit der Frage beschäftigt, wie Schülerinnen und Schüler die Schule erleben und sich in diesem Zusammenhang auch mit Partizipationschancen und Partizipationserwartungen beschäftigt (vgl. Bohnsack 2013, S. 94 oder Helsper 2001, 487f). Sichtbar wird hier, dass Schulen nicht selten zu einem eher instrumentellen Verständnis von Schülerbeteiligung neigen. Aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler betrachtet, entsteht deshalb nicht selten ein ziemlich erbärmliches Bild von schulischen demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten. Helsper unterscheidet in diesem Sinn fünf dominante Wahrnehmungsmuster. Schülerinnen und Schüler erleben die eingeführten Formen der Schülermitverwaltung nicht selten als…

A B C D E
verordnete Autonomie simulierte Partizipation disziplinierende Beteiligung instrumentelle Beteiligung kontrollförmige Autonomie
bei der Schüler_innen gegen ihre eigenen Interessen zum Mitmachen von Partizipationsan-geboten gezwun-gen werden welche Beteiligung verspricht, aber real nicht verwirk-licht die Selbstgestaltung nur zulässt, sofern sie konform zu den Erwartungen der Schule abläuft die nur der Imagebildung der Schule dient bei der Schüler_innen als Kontrolleure bzw. Gegenkräfte gegen missliebige Mitschüler_innen fungieren sollen

(Abbildung auf der Grundlage von Helsper u.a. 2001, S. 575)

Wenn diese Erfahrungen für die Schülerinnen und Schüler von Lehrkräften offensiv als „demokratisch“ deklariert werden, besteht im Sinne des Kollateralen Lernens nach Dewey allerdings die Gefahr, dass Demokratie als Ganzes als simulativer Prozess verstanden wird (vgl. die weite Literatur zur postdemokratischen Wende von Crouch 2005, Blühdorn 2013 etc.). Das heißt: auch wenn wir demokratische Bildung in demokratischen Settings zu vermitteln versuchen, um performative Widersprüche zwischen Bildungsinhalten und Bildungsprozessen zu vermeiden, ist die Gefahr von gefährlichen und kontraproduktiven Nebenwirkungen noch nicht gebannt. Schülerinnen und Schüler haben feine Antennen für echte oder simulative Beteiligungsformen. Wenn demokratische Beteiligung nur simuliert wird – gleichzeitig aber als reale demokratische Beteiligungsform bezeichnet wird – besteht die ernsthafte Gefahr, dass Lernende den Eindruck erhalten, dass mit der Demokratie nur in einem sehr oberflächlichen Sinn Beteiligungschancen verbunden sind. Mit einer Demokratie dieser Bauart wollen die Schüler_innen dann möglicherweise langfristig eher nichts zu tun haben oder aber setzen keine besonders große Hoffnungen in sie (vgl. Besand 2019b).

Ist Kollaterales Lernen zwangsläufig negativ?

Um den Eindruck zu vermeiden, dass kollaterale Effekte in der politischen Bildung zwangsläufig negativ sind, möchte ich in aller Kürze (und grober Überzeichnung) noch ein zweites Beispiel andeuten. Denn es ist ohne Weiteres vorstellbar, dass eine Schulleiterin, die ihre Schule autoritär führt, auf politische Bildung und demokratische Beteiligung keinen gesteigerter Wert legt und vielfach im Konflikt mit den Personen steht, die in der Schule lehren und lernen, eine aktivierende Wirkung auf Schülerinnen und Schüler entwickelt und diese – sei das nun intendiert oder nicht – im Hinblick auf die Entwicklung ihrer politischen Handlungsfähigkeiten stimuliert und beflügelt. Kollaterales Lernen lässt sich immer dann beobachten, wenn nicht die intendierten Lerneffekte sichtbar werden, die sich im Kontext der Komplexität von Lernsituationen ergeben. Kollaterales Lernen muss in diesem Sinne also nicht negativ sein. Dewey spricht in diesem Zusammenhang eher von den Arten und Weisen, in denen stabile Haltungen erzeugt werden, die den zukünftigen Lernprozess, die Zuwendung oder Abwendung von einer Sache begünstigen oder mitbestimmen. Gleichwohl nutzt Dewey den Begriff vor allem, um auf Gefahren in Bildungsprozessen aufmerksam zu machen, weil diese Gefahren unter dem Druck der Verhältnisse in schulischen Umgebungen oft übersehen werden. Auch dafür ein letztes Beispiel: Wenn Schülerinnen und Schüler in einer Klausur das komplexe Institutionengefüge der Europäischen Union und ihrer Gesetzgebungsverfahren korrekt darstellen können, weil sie wissen, dass die Note dieser Klausur entscheidend für ihre Abschlussnote sein wird, dann wissen wir trotz allem noch nichts darüber, ob und in welcher Weise die EU für diese Lerngruppe relevant geworden ist. Vorstellbar wäre es in diesem Zusammenhang durchaus, dass Lernende aufgrund ihres Lerneindrucks beschlossen haben, dass die EU eine Sache ist, mit der sie sich nach Beendigung der schulischen Instruktion nie wieder freiwillig beschäftigen möchten.

Kollaterales Lernen im Kontext von Krisenerfahrungen

Auch im Kontext der COVIT-19-Pandemie werden in diesem Sinne kollaterale Lernprozesse angestoßen. Diese sind wie im Vorangegangenen sichtbar geworden ist, nicht zwangsläufig negativ, aber häufig sehr ambivalent. Gelernt wurde – wenn man den medial gespiegelten gesellschaftlichen Debatten glauben kann – z.B. dass das Gesundheitssystem nicht nach Marktmechanismen funktionieren kann und sollte und dass Gesellschaften mit (Resten) einer sozialstaatlichen Infrastruktur im Pandemiefall klar im Vorteil sind. Gelernt wurde auch, dass nicht nur Banken systemrelevant sind (wie es nach der Finanzkrise von 2008 den Anschein hatte), sondern dass neben den noch halbwegs offensichtlichen Ärzt*innen, Polizist*innen, Apotheker*innen und Arbeiter*innen in Stadtreinigung und Wasserversorgung vor allem die schlechtbezahlten Kranken- und Altenpfleger*innen, Supermarktkassierer*innen, und Paketzusteller*innen „das System“ durch ihren Einsatz und ihre Bereitschaft, ihre Gesundheit zu ruinieren, am Laufen halten. Auch die Arbeit von Lehrer*innen und Wissenschaftler*innen erschien plötzlich in einem anderen Licht. Während erstere vor allem von Eltern schulpflichtiger Kinder im Homeoffice und deren Arbeitgeber*innen schmerzlich vermisst werden, avancierten letztere über Nacht zu hochgefragten Welterklärer-und  Kontigenzbewältiger*innen. Deren unmögliche Aufgabe darin besteht, Nichtwissen möglichst zügig in Wissen umzuwandeln – oder aber die Gesellschaft dabei zu unterstützen, das gegenwärtige Nichtwissen zumindest eine Weile auszuhalten.[2]Sehr passend formulierte Jürgen Habermas in einem Interview in der Frankfurter Rundschau am 8.4.2020 dazu Folgendes:

„Unsere komplexen Gesellschaften begegnen ja ständig großen Unsicherheiten, aber diese treten lokal und ungleichzeitig auf und werden mehr oder weniger unauffällig in dem einen oder anderen Teilsystem der Gesellschaft von den zuständigen Fachleuten abgearbeitet. Demgegenüber verbreitet sich jetzt existentielle Unsicherheit global und gleichzeitig, und zwar in den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst.(…) Zudem bezieht sich die gegenwärtige Unsicherheit nicht nur auf die Bewältigung der epidemischen Gefahren, sondern auf die völlig unabsehbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen. In dieser Hinsicht – so viel kann man wissen – gibt es, anders als beim Virus, einstweilen keinen Experten, der diese Folgen sicher abschätzen könnte. Die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Experten sollten sich mit unvorsichtigen Prognosen zurückhalten. Eines kann man sagen: So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.“

Im Sinne des Kollateralen Lernen wäre eine der herausfordernsten Lernaufgaben, die die Covit-19-Pandemie für unsere Gesellschaften bereithält, dieses Wissen über unser Nichtwissen wach zu halten, statt in einem sehr simplen Sinn durch virologische Wissensproduktion zu bewältigen. Als Bildungsziel formuliert sprechen wir von Ambiguitätstoleranz.

  • Ambiguitätstoleranz als zentrale Bürger*innentugend

Politische Bildung kann helfen, diese Ambiguitätstoleranz zu trainieren, denn politische Bildung in der Demokratie macht sichtbar, dass demokratisches Handeln immer Handeln unter dem Zwang des Nichtwissen ist. Wenn wir Demokratie verstehen als die Institutionalisierung von Ungewissheit (Przeworski), dann sind demokratische Systeme auf Ambiguität gebaut. Sie bestehen geradezu aus Ambiguität. Hinweise darauf sind leicht zu entdecken, denn in Demokratien kann niemand wirklich wissen, wie Wahlen zukünftig entschieden werden. In Demokratien geht es um den Interessenausgleich, um revidierbare Entscheidungen, die Teilung von Gewalt und um den Schutz von Minderheiten, auch wenn sie abwegiger Meinung sind und seltsame Gebräuche pflegen. Ambiguität ist also in der Politik sichtbar, wohin man auch schaut. In der Demokratie ist die Ambiguitätstoleranz die zentrale Bürger*innentugend und politische Bildung in der Demokratie hat die zentrale Aufgabe diese Tugend zu trainieren. Denn in der politischen Bildung geht es nach allgemeinem Verständnis darum, junge Menschen auf ihre Rolle als Bürger*innen in einer Demokratie vorzubereiten. Es geht darum, sie dabei zu unterstützen, einen eigenen Standpunkt zu finden und gemeinsam mit anderen eine Antwort auf die Frage zu entwickeln, wie wir zusammen leben wollen, was für unser Leben und Überleben wichtig ist und wie wir genau das absichern können. Im Umkehrschluss heißt das – nach meiner Auffassung – allerdings auch, dass es in der politischen Bildung gar nicht darum gehen kann, einen klar konturierten und durch andere bereits richtig und vollständig verstandenen Gegenstand (nämlich die Politik, die Gesellschaft, die Wirtschaft, das Recht etc.) zu präsentieren, der nur noch angemessen, das heißt allgemein verständlich oder zielgruppenspezifisch adäquat, vermittelt werden muss. Oder noch zugespitzter formuliert: In der politischen Bildung geht es gar nicht um die Vermittlung von Politik, sondern um das individuelle und selbstbestimmte Politisch-Werden und Politisch-Sein. Dass wir uns in diesen Zusammenhängen auch mit politischen Informationen und Fakten beschäftigen ist klar und unvermeidlich. Aber diese haben keinen Sinn an sich. In der politischen Bildung geht es vielmehr darum, etwas, was ich vielleicht gestern schon wusste und zu dem ich möglicherweise (k)einen Standpunkt habe, im Bildungsprozess neu oder verändert wahrzunehmen. Es geht darum, neue/andere/unterschiedliche Perspektiven kennenzulernen und als wertvoll anzuerkennen und mir selbst eine langfristige Skepsis gegenüber mühsam erarbeiteten eigenen Vorstellungen zu erhalten. Politische Bildung ist in diesem Sinn auch kein sicherheitspolitisches Instrument, mit dem wir für Ruhe und Frieden in unserem politischen Gemeinwesen sorgen. Politische Bildung fördert die kritische Urteilskraft. Sie bahnt politische Urteils- und Handlungsfähigkeit an und eröffnet auf diese Weise wichtige Wege zur Selbstbestimmung und Kritik. Wenn wir Ambiguitätstoleranz als zentrale Bürger*innentugend verstehen, dann ist es eine wichtige Aufgabe der politischen Bildung, diese Fähigkeit zu fördern.

Die Covid-19-Pandemie bietet in diesem Zusammenhang ungeahnte und hochdynamische Lerngelegenheiten, diese sind – wie uns Dewey gezeigt hat – aber oft nicht offensichtlich, sondern hinter den auf der Hand liegenden praktischen und technischen Lernanlässen verborgen. Denn die Covid-19-Pandemie lässt sich nicht bewältigen, indem wir den Menschen beibringen, wie sie sich die Hände waschen oder Mundschutzmasken nähen. Sie wird nicht kleiner beim sachkundigen Betrachten algorithmischer Graphen – ja nicht mal das Rezept für die Produktion eines Impfstoffes (auf das wir gegenwärtig sehnlichst warten) wird uns in diesem Zusammenhang wirklich retten. Vielmehr gilt: nach dem Virus ist vor dem Virus und nach der Krise ist vor der Krise. Welche (kollateralen) Lernprozesse die Covid-19-Pandemie anzustoßen in der Lage ist, wird sich allerdings erst in der Rückschau auf unsere heutigen Tage feststellen lassen. Sie könnte uns dazu bringen zu erkennen, dass wir in einer globalisierten Welt lernen müssen, mit Herausforderungen im globalen Maßstab umzugehen, weil der Rückzug ins Nationale nichts besser macht, wenn die Viruskrise den Rest der Welt verbrennt. Wir könnten aber auch lernen, dass man nationale Grenzen nach einer langen Phase europäischer Integration quasi über Nacht wieder schließen kann. Wir könnten lernen solidarisch, nachhaltiger und vernetzter zu denken, weil wir erkennen, dass die Supermarkkassierer*innen, die Alten- und Krankenpfleger*innen sich beim nächsten Mal nicht mehr in den Virusnebel begeben, wenn sich die Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Leistungen nicht auch in arbeitsrechtlichen und tariflichen Veränderungen ausdrücken. Wir könnten fataler Weise aber auch lernen, dass sich der Pflegnotstand löst, wenn wir die Alten und Kranken sterben lassen. Lernen ist ein aktiver und selbstbestimmter Prozess – er lässt sich von außen bestenfalls anregen, aber nicht steuern. Was wir lernen ist in unserer Hand – wir werden sehen, was zu lernen wir in der Covid-19-Pandemie als Gesellschaft in der Lage sind.

Literatur

Autorengruppe Fachdidaktik (2015): Was ist gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht, Schwalbach
Besand, Anja/Overwien, Bernd/Zorn, Peter (Hrsg.) (2019): Politische Bildung mit Gefühl. Bonn
Besand, Anja (2019a). Was ist gute politische Bildung in der Schule,in: Bildung und Erziehung 72/3, S. 262-276
Besand, Anja (2019b): Hoffnung und Ihre Losigkeit – Politische Bildung im Zeitalter der Illusionskrise, in: Dies./Overwien, Bern/Zorn, Peter (Hrsg.) Politische Bildung mit Gefühl, Bonn 2019, S. 173-187
Besand, Anja (2018): Die Welt muss als grundsätzlich gestaltbare Welt präsentiert werden, in: Reinhardt, Volker (Hrsg.) Wirksamer Politikunterricht, Schneider/Hohengeren 2018, S. 26-38
Besand, Anja (2004): Angst vor der Oberfläche. Zum Verhältnis ästhetischer und politischer Bildung im Zeitalter neuer Medien, Schwalbach
Besand, Anja (2003): Politische Bildung in den Räumen der Schule – Ansprüche und Ziele politischer Bildung zwischen Schularchitektur, Räumen und Klagen, in: Pädagogisches Forum 6/2003, S. 333-335
Blühdorn,Ingolfur (2013) Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin
Bohnsack, Fritz: (2013) Wie Schüler die Schule erleben, Opladen
Crouch, Colin (2005) Post-democracy. Polity, Cambridge
Dewey, John (1938). Experience & Education. New York
Habermas Jürgen (2004): Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt.
Helsper, Werner/Böhme, Janette/Kramer, Rolf-Torsten/Lingkost, Angelika (2001) Schulkultur und Schulmythos – Rekonstruktion zur Schulkultur Opladen
Himmelmann, Gerd (2007) Demokratie-Lernen – Eine Aufgabe moderner Schulen, in: Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Demokratie erfahrbar machen – demokratiepädagogische
Przeworski, Adam (1988): Democracy as a contingent outcome of conflicts in: Elster, Jon/Slagsted, Rune (Hrsg.): Consitutionalism and Democracy, Cambridge, S. 59-88

Endnoten

[1]Zum Beispiel das Stillsitzen, das Unterordnen oder das klaglose Stoffaufnehmen und auf Kommando wiedergeben, das im Rahmen von Tests und Leistungsanforderungen zuweilen notwendig wird.

[2]Dass das durchaus gelingen kann, wurde insbesondere am Beispiel des Berliner Virologen Christian Drosten deutlich, dem ein nicht unerheblicher Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft bereitwillig zugehört und gleichzeitig ausgehalten hat, dass Drosten seine Zuhörer*innen häufig gar nicht mit Antworten, sondern mit dem zumutenden Verweis über den Sinn und die Dauer qualitätsgeleiteter wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse konfrontierte, vgl. dazu ausführlich die Ausführungen des NDR über den populären Podcast des Virologen unter https://podcasts.google.com/?feed=aHR0cHM6Ly93d3cubmRyLmRlL25hY2hyaWNodGVuL2luZm8vcG9kY2FzdDQ2ODQueG1s&episode=QVUtMjAyMDA0MDEtMTMzMS0xMzAw

Autor*in

Prof. Dr. Anja Besand ist Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Didaktik der politischen Bildung. In diesem Bereich folgte sie 2009 einem Ruf an die Technische Universität zur Übernahme einer Professur. 

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