Das Referat Öffentlichkeitsarbeit der DeGeDe hatte Herman Zöllner darum gebeten, eine kritische Würdigung des Leitfadens Demokratiebildung Demokratie für die Schule. Schule für Demokratie (Baden-Württemberg) vorzunehmen.

Wir danken ihm für dieses ehrenamtliche Engagement. Hermann Zöllner hat maßgeblich an der Veröffentlichung des Katalogs Merkmale demokratiepädagogischer Schulen, 4. Auflage 2017 Berlin-Jena mitgewirkt. Außerdem begleitet er als Jurymitglied des Preises DemokratieErleben – Der Preis für demokratiepädagogische Schulentwicklung die Weiterentwicklung dieses Preises.

Kritische Würdigung des Leitfadens Demokratiebildung Demokratie für die Schule. Schule für Demokratie (Baden-Württemberg)

Einleitung

Der Leitfaden Demokratiebildung wurde im Sommer 2019 vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport in Baden-Württemberg veröffentlicht und bildet für die Demokratiebildung an allen Schulen des Landes eine verbindliche Grundlage zur Entwicklung ihrer eigenen Konzepte und Lernangebote. Die Verpflichtung wird damit begründet, dass Demokratie „die einzige Staatform (ist), die dem einzelnen mit ihren Mechanismen und Normen individuelle Selbstbestimmung, politische Teilhabe, Schutz vor staatlicher Willkür und Rechtsverletzung durch Dritte garantiert“ (Leitfaden, S.5). Demokratiebildung ist notwendig, denn: „Demokratie lebt von der Beteiligung, von der Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, sich konstruktiv in die Bearbeitung von Problemen und Herausforderungen einzubringen. (ebd.)“ Schule ist der Ort, der alle Kinder und Jugendliche erreicht und sie für die Werte der Demokratie und die „verantwortungsvolle Wahrnehmung von Selbstbestimmungs- und Teilhaberechten“ (a.a.O. S.8) gewinnen könne.

Die Verbindlichkeit wird mehrfach gesichert: Zum einen bildet die Leitorientierung eine Schnittmenge zu den „Leitperspektiven“ – das ist eine landesspezifische Variante der allgemein üblichen „übergreifenden Themen“- , die in den Bildungsplänen für die allgemeinbildenden Schulen verpflichtend verankert sind, zum anderen müssen  „die Umsetzung der Kompetenzen … über die schulischen Gremien (Fachkonferenzen, Gesamtlehrerkonferenz und Schulkonferenz) abgestimmt, koordiniert und evaluiert“ (werden) (S.9). Damit erhält die Demokratiebildung in Baden-Württemberg eine herausragende Bedeutung.

Im Folgenden wird zunächst zum besseren Überblick kurz das Konzept vorgestellt, anschließend seine einzelnen Elemente diskutiert und schließlich in einem Fazit die besonderen Stärken des Leitfadens herausgestellt und auf weitergehende Probleme verwiesen.

Das Konzept

Ausgangspunkt sind „Herausforderungen und Unsicherheiten“ der Demokratie, denen „Ziele und Kompetenzfelder“ gegenübergestellt werden, mit denen den genannten Herausforderungen für die Demokratie „adäquat“ begegnet werden kann.

Aus den Zielen und Kompetenzfeldern werden systematisch „Bausteine und Themenfelder“ entwickelt, die durch detaillierte Kompetenzen und mögliche Inhalte konkretisiert werden. Für die Realisierung in der Schule werden didaktische Leitprinzipien formuliert.

Realisiert wird dieses Konzept in vier schulischen Handlungsfeldern: Demokratiebildung im Fachunterricht, in fächerverbindenden und fächerübergreifenden Angeboten, in der Schulkultur und in der Zusammenarbeit mit externen Partnern.

Ziele und Kompetenzfelder sowie Bausteine mit detaillierten Kompetenzen und Inhaltsvorschlägen beziehen sich systematisch aufeinander. Die detaillierten Kompetenzen konkretisieren die Bausteine, die Inhaltsvorschläge sind als Anregungen zu verstehen. Die didaktischen Leitprinzipien nehmen den Beutelsbacher Konsens auf und ergänzen ihn sinnvoll. Sie werden für die Lehrkräfte in einem eigenen Kapitel konkretisiert. Auf sie wird im Folgenden nicht eingegangen, während die anderen Elemente nun genauer dargestellt und kritisch reflektiert werden.

Darstellung und Kritik
  1. Ziele und Kompetenzfelder

Welche Kompetenzen benötigen Bürgerinnen und Bürger, die Demokratie lebendig machen und weiterentwickeln? Um dieser Frage nachzugehen, ist es notwendig, nach dem Kern dieser Domäne zu fragen und daraus die zentralen Kompetenzen zu ermitteln und ggf. ein Kompetenzmodell zu entwickeln, wie es in anderen Domänen gemacht wurde. Strittig ist in der fachdidaktischen Diskussion schon der Kern. Himmelmann sieht in Kooperation und Konflikt den Kern:

„Demokratie ist eine spezifische Form menschlicher, gesellschaftlicher und politischer Kooperation, ein auf Dauer gestellter Lernprozess, der ‚von der Basis her‘ in seinen unterschiedlichen Formen des Pluralismus, des öffentlichen Diskurses oder der Konfliktregelung immer wieder neu aufgebaut und von der eigenen Idee im Alltagshandeln getragen wird“ (Himmelmann, in: Veith, S.150). Daraus folgt, dass ein Verständnis für die Demokratie als Lebensform entwickelt werden, Interessenkonflikte und Pluralismus als Kern der Demokratie als Gesellschaftsform begriffen werden müssen, die staatliche Ordnung und die Verfahrensformen getragen werden müssen (Demokratie als Herrschaftsform) und die Wirkung von Globalisierungsprozessen auf die Demokratie einbezogen werden müssen. Das erfordere, so Himmelmann, kognitive Fähigkeiten, affektiv-moralische Einstellungen und praktisch-instrumentelle Fertigkeiten.

Auf die Bedeutung des Konflikts in einer pluralistischen Gesellschaft mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen und daraus abgeleitet der Konfliktfähigkeit als „Bürger-Kompetenz“ weist besonders Sibylle Reinhardt hin. Denn der Grundkonflikt der Demokratie artikuliere sich im Widerspruch zwischen der Anerkennung der Legitimität des Konflikts und dem Streben nach Konsens (S. Reinhardt, Konfliktfähigkeit, S.80). Konfliktfähigkeit definiert sie als „Kompetenz zur diskursiven Klärung konkurrierender und konfligierender Ideen und Interessen und zum Aushandeln von Konfliktregelungen“. Es stellt sich die Frage, warum Konfliktfähigkeit als eine Kompetenz im Leitfaden fehlt.

Zwar hat die Demokratiepädagogik kein gemeinsames Kompetenzmodell, aber alle unterschiedlichen Vorschläge beziehen sich auf die gleichen Dimensionen, nämlich soziale/personale Kompetenzen und (sozial-)moralische Kompetenzen als Grundlage, Sachkompetenzen und Handlungskompetenzen als demokratiespezifische Kompetenzen. Sie müssen für die drei Demokratieebenen spezifisch ausgestaltet werden.

Auch der vorliegende Leitfaden verwendet kein Kompetenzmodell, sondern formuliert (etwas vage) Ziele und Kompetenzfelder, die sich den vier Kompetenzdimensionen zuordnen lassen. Grundlage für die Ziele und Kompetenzfelder sind die Einstellungen zum demokratischen Werte- und Normensystem einerseits und der demokratischen institutionellen Realität andererseits (Rückgriff auf die politische Kulturforschung) und Erscheinungen sozialer Ausgrenzung (Rückgriff auf die Deprivationstheorie), was explizit mit der aktuellen Gefährdung der Demokratie und der speziellen Situation Baden-Württembergs begründet wird als dem Land mit dem höchsten Anteil von Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund. Ziel ist es, sozialen Zusammenhalt zu entwickeln und zu stärken.

Im folgenden Schaubild werden die Ziele und Kompetenzfelder den Dimensionen der Demokratie-Kompetenz zugeordnet, wobei Überschneidungen angebracht sind, und mit einigen Stichpunkten erläutert.

Soziale/personale Kompetenzen

Positive Selbstkonzepte und Beteiligungskompetenz

  • Selbstwirksamkeit-Beteiligungskompetenz
  • Soziale Teilhabe – Zusammenhalt und Identifikation mit Demokratie
  • Politische Beteiligung

Identitätsangebote abseits von Abwertungsideologien

  • Identitätsbildung -gemeinsame Werte/transatlantische Bezugspunkte: Basis für Gleichwertigkeit

Sozialkompetenz

  • Grundkonsens über demokratische Werte
  • Respekt, Ambiguitätstoleranz, Empathie, interpersonelles Vertrauen
Moralische Kompetenzen

Identitätsangebote abseits von Abwertungsideologien

  • Identitätsbildung auf Basis gemeinsamer Werte/transatlantische Bezugspunkte
  • Akzeptanz von Gleichwertigkeit
Sachkompetenzen

(Re-)Integration in rationale Diskurse

  • Angemessene Auseinandersetzung mit Demokratie und Widersprüchen zwischen Normen und Wirklichkeit
  • Konstruktiver Umgang mit unterschiedlichen Positionen

Medienkompetenz

  • Informationen sammeln, einordnen und bewerten
  • Ziel: eigene Positionen verdeutlichen

Basis- und Orientierungswissen

  • Gerechtigkeitskonzepte
  • Menschenrechte
  • Solidarität und Verantwortung
  • Erwartungen, Normen und Regeln, Rechte
Handlungskompetenzen

Positive Selbstkonzepte und Beteiligungskompetenz

  • Selbstwirksamkeit-Beteiligungskompetenz
  • Soziale Teilhabe – Zusammenhalt und Identifikation mit Demokratie

Schaubild 1: Verortung der Ziele und Kompetenzfelder in den Kompetenzdimensionen der Demokratiepädagogik

Identitätsbildung, Diskursfähigkeit, Partizipation und Orientierungswissen machen also die Ziele und Kompetenzfelder aus. Sie erfassen zentrale Dimensionen der Demokratiepädagogik.  Ziel ist die Bildung von Gemeinsamkeit und sozialem Zusammenhalt. Dabei wird strukturell der Konflikt und die Konfliktfähigkeit vernachlässigt. Konflikte tauchen zwar in den Inhaltsvorschlägen zu den Kompetenzen auf, aber strukturell wird ein zentraler Kern der Demokratie ausgeblendet.

  1. Bausteine und Kompetenzen

 Bausteine und Kompetenzen mit den inhaltlichen Anregungen stehen in einem systematischen Zusammenhang und lassen sich den Zielen und Kompetenzfeldern zuordnen. Die Bausteine decken alle drei Ebenen der Demokratie ab, jeder einzelne erstreckt sich mindestens über zwei Ebenen. Das entkräftet, zumindest in konzeptioneller Hinsicht, den Vorwurf, Demokratiebildung könne die lebensweltliche Ebene nicht überschreiten. Die Kompetenzen dienen der Orientierung, sie sind, um Schwierigkeiten mit der Integration in den Fachunterricht zu vermeiden, nicht verbindlich. Sie werden mit Fragen aus der Perspektive der Lernenden eingeleitet. Zur Veranschaulichung folgendes Beispiel aus dem Baustein 2 Selbstbestimmung und Autorität:

 

Leitfragen und Kompetenzen Impulse und Inhalte

Welche Regeln sind gerecht?

Die SuS können eigene Vorstellungen von Gerechtigkeit und guten Gemeinschaften formulieren

Grundsätze und Regeln für das Zusammenleben in Familien, Schulklassen und anderen Gruppen, Nachbarschaften, in der Arbeitswelt, in der Kommune, in der Gesellschaft und im Staat

Schaubild 2: Leitfragen und Kompetenzen

Alle Konkretisierungen der Bausteine (Kompetenzen und Inhaltsanregungen) sind in dieser Weise aufgebaut.

Hier kann natürlich nicht ein Überblick über alle Bausteine mit ihren Konkretisierungen gegeben werden, sondern es sollen die zentralen Themen der einzelnen Bausteine mit der Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform in Beziehung gesetzt werden. Die hier genannten Themen stammen aus den Beschreibungen der Bausteine, den inhaltlichen Anregungen und den Kompetenzen.

Ebenen der Demokratie/ Bausteine

B1

Identität und Pluralismus

B2 Selbstbestimmung und Autorität B3 Gleichwertigkeit und Solidarität B4 Interesse und Beteiligung

D. als

Lebensform

Identität in einer pluralistischen Umwelt

Konflikte

Handlungsmöglichkeiten

Regel- und Rechtssetzung im Alltag, der Gesellschaft, im Staat

Handlungsmöglichkeiten

Gleichberechtigung im Nahbereich

Verteilung der Leistungen, Güter und Teilhabemöglichkeiten

Informations-, Präsentations- und Argumentationstechniken

Projekte

Persönliche Interessen

D. als Gesellschafs-

form

Soziale Zugehörigkeit, Abwertungsideologien

Religion und Toleranz

Wert der Grund- und Menschenrechte, Verfassungsprinzipien

Grundsätze der Gerechtigkeit entwickeln, Gerechtigkeitsdefizite

Handlungsmöglichkeiten

Verteilung der Leistungen, Güter und Teilhabemöglichkeiten

Migration und Integration

Solidarität

Kriterien zur Einordnung von Informationen (Medien- und Meinungsfreiheit, Quellen, Interessen…)

Engagement in zivilgesellschaftlichen Organisationen u.a.

 

D. als Herrschaftsform  

Regel- und Rechtssetzung im Alltag, der Gesellschaft, im Staat

Grundsätze der Gerechtigkeit entwickeln, Gerechtigkeitsdefizite

Handlungsmöglichkeiten

Herausforderungen des Sozialstaats Petitionen, Teilnahme an Demonstrationen

Schaubild 3: Zentrale Themen in Bezug zu den Ebenen der Demokratie

Im Sinne des Konzepts dieses Leitfadens, an den Einstellungen zur und Wahrnehmungen der Demokratie zu arbeiten sowie die Identitätsbildung zu fördern, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, sind diese Inhalte schlüssig. Es stellt sich aber die Frage, ob nicht wichtige Themen und auch Handlungskompetenzen aus der Perspektive der Demokratiebildung fehlen.

„Demokratie als Gesellschaftsform, als soziale Verankerung der politischen Demokratie, kann in Umrissen umschrieben werden 1. mit der Existenz des politischen Pluralismus (sozial, politisch, ethnisch, religiös etc., geprägt durch sehr unterschiedliche Verbände, Vereine und Initiativen), 2. mit einem funktionsfähigen System der autonomen gesellschaftlichen Konfliktregulierung (vielfältige Dialog-, Verhandlungs- und Mitbestimmungssysteme), 3. mit der Ausgestaltung eines fairen Systems (sozialer und nachhaltiger Marktwirtschaft (Sozialpolitik, Ökologie), dann 4. mit einer freien und vielfältigen Öffentlichkeit  (Medien) und schließlich 5. mit einem breiten öffentlichen Engagement der Bürger (zivile Bürgergesellschaft).“ (Himmelmann, Demokratie-Lernen, S.21)

Folgt man Himmelmann (auch mit seinem Verweis auf die Theoriegeschichte), dann wird im Leitfaden Demokratie als Gesellschaftsform eindeutig verkürzt repräsentiert, weil der Pluralismus hinsichtlich widerstreitender gesellschaftlicher Interessengruppen und damit für die Demokratie konstitutiven Konflikte nicht aufgenommen sind. Auf das Fehlen der Konfliktdimension bei den Zielen und Kompetenzfeldern wurde ja schon hingewiesen. Eine solche Verkürzung kann fatale Konsequenzen haben, nämlich, dass Jugendliche zum Beispiel Konflikte als schädlich für die Demokratie einschätzen und ihrer Meinung nach auf parlamentarischer Ebene die Opposition die Regierung unterstützen und nicht kritisieren sollte (Sybille Reinhard, Was leistet Demokratielernen, S.125ff).

Damit verbunden stellt sich weitergehend die Frage, ob ohne eine durchgängige sozio-ökonomische Perspektive Demokratie auf den drei Ebenen im Kern erfasst werden kann, weil weder ökonomische Bedingungen, die über Arbeit und Wohnen bis in die familiäre Aushandlung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung wirken, noch Handlungsmöglichkeiten erfasst werden. Die Wirtschafts- und Sozialordnung ist ein Teil der Demokratie (z.B. Art. 20, GG) und gestaltet sie mit, insofern muss Demokratiepädagogik sie thematisieren.  „Demokratie als Lebensform hängt entscheidend davon ab, in welchem Maße sie auch die Beziehungen in der Arbeitswelt beeinflusst…Konkret lautet die Frage, ob die Klassenbeziehungen im Betrieb, …die dort etablierten Formen von Herrschaft und Arbeitsteilung, soziale Ungleichheiten produzieren, die mit dem demokratischen Gleichheitsgrundsatz nicht zu vereinbaren sind“ (Raphael, S. 363). Ein Vorschlag wäre, das Konzept der Sozialbürgerschaft (Europäische Kommission 1999, siehe Raphael S.205) einzuführen, das neben individuellen Schutzrechten und Versicherungen die Unterordnung der Beschäftigten unter eine betriebliche Hierarchie durch individuelle und kollektive Mitwirkungsrechte kompensiert und entsprechend Norm und Wirklichkeit gegenüberzustellen.

Noch zwei Anmerkungen zu den detaillierten Kompetenzen: Nur ungefähr die Hälfte der Themen enthält auch Handlungskompetenzen, wo doch das reflektierende Erfahren für die Demokratiebildung eine der beiden Quellen des Lernens ist. Auch das Verantwortungslernen als ein Weg zur Übernahme der Bürgerrolle scheint marginalisiert zu sein. Das ist aber besser an den Erfahrungsgelegenheiten in der Schule selbst einzuschätzen, die in den Handlungsfeldern beschrieben werden.

  1. Handlungsfelder

Demokratiebildung (in) der Schule findet in vier Handlungsfeldern statt: im Fachunterricht, in fächerübergreifenden und -verbindenden Angebote, in der Schulkultur und in Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern.

Zunächst werden noch einmal die Kernpunkte und Ansprüche dargestellt: Demokratiebildung wird als „ganzheitliche Aufgabe“, also alle Bereiche der Schule umfassende Aufgabe verstanden. Schule wird zu einem Handlungsfeld für Demokratielernen, denn Unterricht und Schule sind – im Rahmen der Gesetze und Verordnungen – grundsätzlich verhandelbar.  Wissens- und Erfahrungserwerb tragen gleichermaßen zur Demokratie-Kompetenz bei. Demokratielernen orientiert sich an der Leitvorstellung politischer Mündigkeit (vgl. dazu die grundsätzlichen Überlegungen am Schluss dieses Aufsatzes). Für das Handlungsfeld Fachunterricht werden Schnittmengen mit einzelnen Fächern bzw. Fächergruppen aufgezeigt und Anregungen und Impulse für eine Thematisierung gegeben. Für den fächerübergreifenden/-verbindenden Unterricht werden Projektbeispiele dokumentiert.

Erstaunlich ist die Begrenzung auf die Schulkultur, wo doch Demokratiebildung als Aufgabe der ganzen Schule postuliert wird. Schon Volker Reinhardt hat 2010 den Unterricht, das Schulmanagement, die Schulverfassung und Schulkultur als Feld demokratischer Schulentwicklung bestimmt (Volker Reinhardt, S.86ff). Und im Katalog „Merkmale demokratiepädagogischer Schulen“ (Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung) werden systematisch Qualitätsmerkmale und Kriterien für die Qualitätsbereiche Schulkultur, Führung und Management, Professionalität der Pädagoginnen und Pädagogen sowie Kooperationspartnerinnen und -partner und für die Lernkultur entwickelt.

Der Leitfaden würde gewinnen, wenn ein entwicklungsoffenes Gesamtbild einer demokratischen Schule in diesem Kapitel entfaltet würde.

Zur Bestandsaufnahme und Entwicklung der Schulkultur werden 10 Prüfsteine für eine demokratische Schulkultur knapp skizziert, die allerdings stark auf Kommunikation und Interaktion ausgerichtet sind. In der folgenden Darstellung werden die Eingangsfragen aufgenommen, womit die Zielrichtung der Prüfsteine erfasst werden kann.

10 Prüfsteine für eine demokratische Schulkultur
1.     Bilden die verfassten und etablierten Gremien die Interessen aller Beteiligten auf breiter Basis ab? Reduzieren ergänzende Gremien…Ungleichgewichte…?
2.     Herrscht Transparenz in Bezug auf Regeln und wechselseitige Erwartungen?
3.     Werden die Interessen, Bedürfnisse und Erwartungen aller Beteiligten regelmäßig erhoben und in die Weiterentwicklung von Schule und Unterricht einbezogen?
4.     Werden bestehende Probleme und Konfliktfelder benannt und thematisiert?
5.     Gegen Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern offen, respektvoll und wertschätzend miteinander um?
6.     Berücksichtigen die Ansprache- und Dialogformen die sprachlichen Voraussetzungen und die kulturelle Diversität in der Schule?
7.     Fühlen sich Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte in ihrer Individualität und Identität wahrgenommen und akzeptiert?
8.     Erhalten Schülerinnen und Schüler, Eltern und Lehrkräfte alters- und entwicklungsgemäße Spielräume für autonome Entscheidungen und für die Übernahme von Verantwortung…?
9.     Begegnen Schülerinnen und Schüler, in dem…Sozialraum Schule, Vorbilder und Maßstäbe für demokratisches Verhalten und für einen demokratischen Diskurs?
10.  Setzen sich Schülerinnen und Schüler mit demokratischen Normen und Mechanismen im Rahmen des schulischen Leitbilds/Schulprogramms…auseinander?

Schaubild 4: Prüfsteine für eine demokratische Schulkultur (verkürzt)

Der Charme dieses Ansatzes ist, von Ansprüchen an gleichwertige und partizipative Interaktion und Kommunikation aus die etablierte Schulkultur zu befragen und nicht gleich Merkmale demokratischer Schulkultur festzuklopfen.

Sinnvoll wäre es aber schon, auch hier eine Gesamtvorstellung demokratischer Schulkultur zu umreißen, die eben auch die Ebene der Kommunikation und Interaktion überschreitet. Dazu ein Beispiel aus dem Merkmalskatalog:

Das erste Qualitätsmerkmal im Merkmalskatalog bezieht sich auf das Leitbild und die Werte der Schule:

„Leitbild und Werte orientieren sich an dem Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung des Gemeinwesens. Sie prägen die Ausgestaltung aller Bereiche der Schule. Sie werden von Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Kindern und Jugendlichen gemeinsam entwickelt und regelmäßig überprüft.“

Die Konkretisierung im Merkmalskatalog beginnt bei Werten und Orientierungen (Anerkennung, Partizipation, Verantwortung, Bildungsgerechtigkeit und Toleranz), führt über Kommunikation und Interaktion hinaus zu institutionellen Strukturen und innerschulischen Regelungen: z.B. Inklusion, keine Abstufungen, Verankerungen sozialen und moralischen Lernens im schulinternen Curriculum, Rechte und Regeln, teilautonome Arbeitsorganisation der Pädagoginnen und Pädagogen, direkte und repräsentative Beteiligungsformen für Eltern, Kinder und Jugendliche sowie Pädagoginnen und Pädagogen. Die Werte haben in diesem Beispiel eine wirksame Orientierungskraft für alle Dimensionen der Schulkultur; darüber hinaus aber auch auf die Gestaltung aller Bereiche der Schule.  Dieser Ansatz des Merkmalskatalogs ist nicht als Alternative zum Ansatz des Leitfadens zu verstehen, sondern als Ergänzung; er ermöglicht einen weiten Blick darauf, wie eine demokratische Schule gestaltet werden kann.

Demokratiebildung mit externen Partnern wird verstanden als die Nutzung von Angeboten wie dem Deutschen Bundestag bis hin zur Kooperation mit Bildungsträgern zur Planung und Durchführung gemeinsamer Maßnahmen. Leider wird verkannt, welches Potential für das Demokratielernen interessenorientierte Aktivitäten im kommunalen Umfeld der Schule haben. Schülerinnen und Schüler können im Kontakt mit kommunalen Institutionen lernen, eigene Interessen zu vertreten, politisch zu argumentieren und politische Strukturen zu verstehen. Diese Verbindung unterschiedlicher Lernorte ist es, die die Schülerinnen und Schüler bei der Entwicklung ihrer politischen Urteilsfähigkeit und im individuellen Findungsprozess zu einer eigenen Staatsbürgerrolle unterstützt. Dies ist ein Feld, auf dem sehr einfach die Brücke von der schulischen Demokratie zur realen Demokratie in der Gesellschaft geschlagen werden kann.

Fazit und zwei grundsätzliche Anmerkungen

Da die wichtigsten Kritikpunkte oben schon ausführlich darstellt wurden, sollen hier die größten Vorzüge herausgehoben und zwei weiterführende Gedanken eingebracht werden.

  • Demokratiebildung ist verpflichtend und auf der schulischen Entscheidungsebene, der schulinternen curricularen Planung und in schulischen Handlungsfeldern verankert. Der Leitfaden bildet dafür die verbindliche Grundlage
  • Er verfolgt ein kulturtheoretisch basiertes Konzept von Zielen und Kompetenzfeldern, das auch auf zeitgenössische Problemlagen und die landesspezifische Situation reagiert.
  • Er entfaltet einen klaren Zusammenhang von Zielen-Kompetenzen- Leitlinien -Inhaltsbausteinen-Handlungsfeldern.
  • Er hat eine große Nähe zum Stand der Demokratiedidaktik
  • Die grundlegenden sozialphilosophischen und lernpsychologischen Konzepte der Demokratiebildung: Anerkennung, Verantwortung, Partizipation und Selbstwirksamkeit werden in allen Elementen des Leitfadens aufgenommen.

Der Leitfaden veranlasst aber auch zu weitergehenden für die Demokratiepädagogik relevanten Überlegungen:

  • Leitidee politische Mündigkeit

Den Zielen und Kompetenzfeldern des Leitfadens liegt, darauf wird an verschiedenen Stellen explizit verwiesen, die Leitidee politischer Mündigkeit zugrunde. Die Übertragung dieses Begriffes auf die Demokratiebildung ist aus zwei Gründen diskussionswürdig. Zum einen wird die Ebene der Demokratie als Gesellschaftsform dabei unterschlagen, für die als eine Leitidee eher soziale und moralische Urteilsfähigkeit treffend wäre. Zum anderen ist das Konzept der Mündigkeit in der Politischen Bildung selbst heftig umstritten.  Denn Mündigkeit unterstelle ein autonomes Subjekt, das nicht denkbar sei, weil dann seine gesellschaftliche Formung nicht bedacht werde. Mündigkeit könne auch nicht als Zustand, sondern höchstens als Anspruch verstanden werden. Schließlich gebe es begründete Zweifel, ob gesellschaftliche Entwicklungen auf dem „unabhängigen Reflexionsvermögen mündiger und partizipationsbereiter BürgerInnen beruh(ten)“. (Andreas Eis, Mythos Mündigkeit, S.31).  Möglicherweise verstellt die Orientierung an Mündigkeit mehr Erkenntnis-, Analyse- und Handlungsmöglichkeiten als sie eröffnet.

  • Heterogenität der Lernenden

Wie z.B. die Studie zum demokratischen Mindset zeigt (Abs/Hahn-Landenberg), schlagen die Herkunftsbedingungen auch auf den Erwerb demokratiebezogener Einstellungen und Fähigkeiten durch. Denn es besteht ein enger Zusammenhang zwischen demokratiebezogenen Einstellungen und politischem Wissen. Je differenzierter das Wissen ist, desto deutlicher prägen sich demokratiebezogene Einstellungen aus. Nun ist das Wissen wiederum von den Herkunftsbedingungen abhängig und so wirken Herkunftsbedingungen auch auf das Demokratielernen. Allerdings ist Wissen keine hinreichende, aber eine notwendige Bedingung für Demokratie-Kompetenz. Die Gefahr ist also, dass vom Demokratielernen vor allem die Kinder bildungsnaher Herkunft profitieren, die Angebote auf diese ausgerichtet werden und Demokratiebildung damit Bildungsungleichheit faktisch verstärkt. Alternativen finden sich in Beiträgen zum Wettbewerb „Demokratisch handeln“ und dem „Preis für demokratische Schulentwicklung“. Aber sollten die Schulen bei der Entwicklung solcher Angebote nicht auch von curricularen Materialien unterstützt werden? Der Leitfaden geht darauf in dem didaktischen Leitprinzip „Lerngruppenorientierung und Elementarisierung“ ein, in dem es heißt: „Demokratiebildung soll für alle Schülerinnen und Schüler zugänglich, erfahrbar und verständlich sein. Die Lehr-Lern-Arrangements und das Anforderungsniveau orientieren sich deshalb an den spezifischen Eigenschaften und Voraussetzungen der jeweiligen Lerngruppe und der einzelnen Schülerin/des einzelnen Schülers.“ Aber reicht dieser Hinweis als Unterstützung für die Planungsarbeit der Lehrkräfte aus?

Literatur

Abs, Hermann Josef; Hahn-Landenberg, Katrin (Hrsg. 2017): Das politische Mindset von 14-Jährigen. Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study 2016. Münster.

Eis, Andreas (2017): Mythos Mündigkeit? Partizipation und politisches Handeln: Selbst(des)Illuminierung als Aufgabe emanzipatorischer Politischer Bildung? In: Greco/Lange: Emanzipation. Zum Konzept der Mündigkeit in der Politischen Bildung. Schwalbach/Ts.

Himmelmann, Gerhard (2017): Demokratie-Lernen in der Schule. Schwalbach/Ts.

Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (Hrsg. 2017): Merkmale demokratiepädagogischer Schulen. Ein Katalog. Berlin – Jena, 4.Auflage.

Lange, Dirk; Himmelmann, Gerhard (2010): Demokratiedidaktik. Wiesbaden.

Ministerium für Kultus, Jugend und Sport (2019): Demokratiebildung. Schule für Demokratie, Demokratie für Schule. Stuttgart, https://t1p.de/vmo3.

Reinhardt, Sibylle (2017): Konfliktfähigkeit als Ziel für die politische Mündigkeit von Lernenden. In:  In: Greco/Lange: Emanzipation. Zum Konzept der Mündigkeit in der Politischen Bildung. Schwalbach/Ts.

Reinhardt, Sibylle (2010): Was leistet Demokratie-Lernen für die politische Bildung? Gibt es empirische Indizien zum Transfer von Partizipation im Nahraum auf Demokratie-Kompetenz im Staat? Ende einer Illusion und neue Fragen. In: Lange, Dirk; Himmelmann, Gerhard (2010): Demokratiedidaktik. Wiesbaden.

Reinhardt, Volker (2019): Kriterien für eine demokratische Schulqualität. IN: Lange, Dirk; Himmelmann, Gerhard: Demokratiedidaktik. Wiesbaden.

Raphael, Lutz (2019): Jenseits von Kohl und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom. Berlin.

Autor

Hermann Zöllner
Mitglied der DeGeDe