In diesem Beitrag gibt Manuel Glittenberg, Mitarbeiter im hessischen Projekt “Zusammenleben neu gestalten”, einen spannenden Einblick in das neu entwickelte Workshop-Format mit dem Themenschwerpunkt der globalen Zusammenhänge zwischen Ungleichheitsverhältnissen und sozialen Menschenrechten.

„Leben in Weltinnenverhältnissen – Soziale Ungleichheit und Ansätze globaler Solidarität“ – Einblicke in ein neu entwickeltes Workshop-Konzept des Projekts „Zusammenleben neu gestalten“

Bildung sollte für alle frei zugänglich sein.
Verantwortung wird gemeinschaftlich und solidarisch getragen.
Alle haben das Recht auf eine bedingungslose Grundversorgung.
Andere Lebensformen werden respektiert, solange sie niemanden einschränken.
Alle haben gleichwertiges Mitbestimmungsrecht.

Diese Aspekte dürfen in einer menschenfreundlichen Weltstadt nicht fehlen, entschieden die angehenden Workshop-Teilnehmenden. Ausgangspunkt hierfür war die Frage nach sieben Dingen, „die ein Mensch braucht, um sich gemeinsam mit anderen frei entfalten zu können..“. Die Punkte, auf die sich die angehenden Demokratie-Coaches ausgehend von zunächst jeweils 7 eigenen Aspekten in einem Dilemma-Planspiel mittels des Prinzips „Think-Pair-Share“ geeinigt hatten, führen unmittelbar in die Auseinandersetzung mit den sozialen Menschenrechten. Diesen kommt sowohl als kritisches Analyseinstrument (vgl. Fritzsche 2019, 48) als auch als Bezugspunkt für die Kämpfe sozialer Emanzipationsbewegungen und Selbstorganisationen Betroffener von (strukturellem) Unrechtsgeschehen insbesondere im globalen Süden (vgl. Krennerich 2013, 459 ff.) eine zentrale Bedeutung zu. Doch dazu weiter unten mehr.

Ausgangspunkte der Workshop-Entwicklung

Der Workshop mit den Demokratie-Coaches war Teil der Erprobung und Weiterentwicklung eines neu erarbeiteten Formats der politischen Bildung zum Thema globale Ungleichheitsverhältnisse. Den Ausgangspunkt für dieses Entwicklungsfeld bildet v.a. die Arbeit mit Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe. Hier nehmen wir vielerorts ein Interesse wahr, sich mit Fragen der Globalisierung, weltweiter Migration und Flucht konstruktiv-kritisch auseinanderzusetzen. Vielfach existieren Wissen und Empörung über die Zusammenhänge, die in den politischen und medialen Diskursen zur „Fluchtursachenbekämpfung“ bemerkenswert unterbelichtet bleiben: etwa zwischen der immer weiter um sich greifenden globalen Konkurrenz unter ungleichen Ausgangsbedingungen (z.B. durch die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik der EU) und der Zerstörung von Lebensgrundlagen in Ländern des globalen Südens.

Eng damit zusammen hängt die große Präsenz rassistischer Krisendeutungen in politischen und medialen Diskursen. Denn soziale Verwerfungen und Prozesse der Entsicherung von Lebenslagen sind auch in Deutschland zunehmend spürbar. Vielfach werden solche Entwicklungen, etwa von erhöhtem Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt oder dem Abbau sozialer Infrastruktur, in rassistischer Weise gedeutet. Ganz im Sinne der Aussage von Innen- und Heimatminister Horst Seehofer (CDU), wonach „Migration die Mutter aller Probleme“ sei (https://www.tagesschau.de/inland/seehofer-migration-mutter-aller-probleme-101.html). Die Gründe sozialer Probleme und Krisen werden hier grundsätzlich nach außen verlagert und damit auf „Andere“ geschoben, die infolgedessen bekämpft werden.

Teilnehmende darin zu unterstützen, solche Narrative zu dekonstruieren, an ihnen die Funktionsweise von Rassismus herauszuarbeiten, um sie mit Bezug auf die Universalität der Menschenrechte klar und entschieden zurückweisen zu können, bildet einen festen Aspekt unserer Workshoparbeit etwa zum Umgang mit Rassismus und Rechtspopulismus. Das neue Workshopformat zielt auch darauf ab, zu den hinter der rassistischen Artikulation liegenden sozialen Themen die eigene Sprach- und Handlungsfähigkeit zu stärken. Wichtig ist dabei ist es unserem Erachten nach, die Auseinandersetzung mit sozialen Fragen zugleich in einer rassismuskritischen Weise zu führen, d.h. die problematische Trennung bzw. Entgegensetzung der Diskurse um gesellschaftliche Pluralität, Migration und Flucht einerseits und der Brisanz sozialer Fragen andererseits nicht zu reproduzieren, sondern die Themen in ihrer tatsächlichen Verschränktheit in den Blick zu nehmen.

Unterbelichtetes in den Blick nehmen

In diesem Sinne funktioniert auch die Arbeit mit dem Zeitstrahl, bei der die Teilnehmenden historische und zeitgeschichtliche Ereignisse auf einer Zeitachse einordnen. Wichtig dabei ist, dass es nicht um eine Wissensabfrage geht, sondern darum, sich gegenseitig bei der Einordnung zu unterstützen, das kollektive Wissen miteinander zu teilen – und wahrzunehmen, dass manche Ereignisse einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis haben, während andere, nicht weniger bedeutsame, dem völlig entzogen sind.

Da stehen dann etwa der von Arbeitsmigrant*innen getragene Wilde Streik bei Ford 1973 im Werk in Köln-Niehl neben der Veröffentlichung der Studie des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ im selben Jahr; die erste Mondlandung 1969 neben der ersten internationalen Menschenrechtskonferenz in Teheran, auf der die Staaten des globalen Südens eine Kritik an der „hochgradig ungerechten Weltwirtschaftsordnung“ formulieren. Deutlich wird in der Auseinandersetzung mit den Ereignissen des Zeitstrahls etwa, dass die Prozesse der Marktöffnung, Deregulierung und Privatisierung, die vielen Ländern des globalen Südens mit den Strukturanpassungsprogrammen seit Beginn der 80er Jahre aufgezwungen wurden, sich in ähnlicher Weise mit der neoliberalen Entwicklung in Europa vollzogen haben. Diese beiden Entwicklungen zeitig(t)en mit Blick auf die unterschiedlichen Positionen in der globalen Arbeitsteilung zwar unterschiedliche, mit Blick auf die Erfahrungen für einen großen Teil der Bevölkerungen im globalen Süden wie im globalen Norden jedoch auch sehr ähnliche Folgen: Etwa die Zunahme der Armut bei gleichzeitiger Reichtumskonzentration bei einigen Wenigen, Konzentrationsprozessen von Kapital und damit eine Steigerung der Konzernmacht sowohl gegenüber der Politik als auch gegenüber Arbeitnehmenden, eine Schwächung der Gewerkschaften und des öffentlichen Sektors. Am Ende der Arbeit mit dem Zeitstrahl und ggf. – je nach Anteil der Wissensvermittlung – eines sich daran anschließenden systematisierenden Inputs stehen solche Erkenntnisse, die zu Perspektiverweiterungen führen können. Wichtig ist dabei darauf zu achten, das richtige Maß an Wissensvermittlung zu finden und die Teilnehmenden mit Blick auf ihr eigenes Wissen um diese Zusammenhänge und ihre vielfältigen Erfahrungshintergründe auch als Expert*innen in der Sache sowie der entsprechenden lebensweltlichen Erfahrungsräume zu adressieren.

Die Bedeutung der sozialen Menschenrechte

Als perspektiverweiternd wird häufig auch die Auseinandersetzung mit den sozialen Menschenrechten erlebt, die mit der eingangs geschilderten subjektorientierten und partizipativen Methode bereits implizit im Raum sind und auch in der Zeitstrahlarbeit eine wichtige Rolle spielen. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Auseinandersetzung mit den sozialen Menschenrechten lange Zeit im deutschsprachigen Menschenrechtsdiskurs eine relativ untergeordnete Rolle gespielt hat. Amnesty International hat sie etwa erst im Jahr 2003 – mehr als 40 Jahre nach Gründung der NGO – in seine Kampagnen aufgenommen. Zehn Jahre zuvor, 1993, war auf der Wiener Menschenrechtskonferenz die Zusammengehörigkeit der bürgerlichen Freiheitsrechte und der sozialen (genau: wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen) Rechte betont worden. Interessant ist, dass das Wissen um die sozialen Menschenrechte von Beginn an da war, sich dieses jedoch erst nach und nach auch institutionell durchsetzen konnte, da die bürgerlichen Freiheitsrechte als Menschenrechte einen gewissen „Interpretationsvorsprung“ (Krennerich 2013, 119) hatten.

Neben einer kurzen Beleuchtung der Geschichte der sozialen Menschenrechte geht es in dieser Workshopphase v.a. um eine Auseinandersetzung mit Charakter und Inhalt der sozialen Menschenrechte. Auch hier ist die UN-Kinderrechtskonvention als Menschenrechtspapier von großer Bedeutung, denn sie vereint bürgerliche Freiheitsrechte mit sozialen Rechten. So enthält sie umfangreiche Ausführungen u.a. zu den Rechten auf Gesundheit, einschließlich Nahrung und Wasser, auf soziale Sicherheit, Bildung, Ruhe und Freizeit, sowie Teilnahme am kulturellen Leben. Daneben sind das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit, das Recht auf Arbeit, Rechte bei der Arbeit, das Recht auf soziale Sicherheit und das Recht auf eine angemessene Unterkunft wichtige soziale Menschenrechte, auf die wir in diesem Zusammenhang eingehen. Wie alle Menschenrechte dienen die sozialen Menschenrechte dem Schutz der Menschenwürde und der Ermöglichung von Freiheiten. „(S)ie zielen auf die autonome Selbstverwirklichung des Menschen ab und wirken auf die Verwirklichung einer Gesellschaftsordnung hin, in der sich die einzelnen Menschen gemeinsam mit anderen selbstbestimmt frei entfalten können.“ (Krennerich 2013, 336). Daraus erwachsen Gewährleistungspflichten des Staates, die Voraussetzung zu schaffen, dass die sozialen Menschenrechte umgesetzt werden können. Dazu gehören auch aktive Maßnahmen gegen Armut, Arbeitslosigkeit, Hunger, Krankheit, Obdachlosigkeit und soziale Ausgrenzung. Versteht man mit Heiner Bielefeldt Menschenrechte als „politisch-rechtliche Antworten auf öffentlich artikulierte Erfahrungen strukturellen Unrechts“ (vgl. Bielefeld 2006), dann lässt sich der Bedeutungsgewinn der sozialen Menschenrechte auch als Reaktion auf die sozialen Verwerfungen verstehen, die infolge der in immer mehr gesellschaftliche Bereiche vordringenden Logik privater Profitinteressen entstanden sind.

Dekonstruktion rassistischer Krisendeutungen

Je nach thematischem Schwerpunkt folgt der Auseinandersetzung mit den sozialen Menschenrechten entweder die Analyse von Zitaten rassistischer Krisendeutungen oder eine Arbeit an individuellen Fallgeschichten. Zentrale Erkenntnisse bei der Zitatanalyse im Workshop mit den angehenden Demokratiecoaches waren etwa, dass in den rassistischen Krisendeutungen Themen miteinander gekoppelt werden, die nichts miteinander zu tun haben. Im konkreten zu analysierenden Beispiel wurde die Altersarmut in Deutschland etwa in einen Zusammenhang mit der Ankunft von Geflüchteten im Sommer der Migration 2015 gebracht. „Hier werden dichotome Gruppen konstruiert, die es so gar nicht gibt, denn unter den Menschen die in Deutschland unter Altersarmut leiden, gehören ja auch Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchtete“, äußerte eine Teilnehmende. „Eigentlich müsste man doch über die Verteilung zwischen oben und unten nachdenken, wenn man etwas gegen die Altersarmut unternehmen will, aber da wurde zuletzt politisch doch eher in die umgekehrte Richtung gearbeitet“, ergänzte ein anderer Teilnehmer mit Bezug auf Ereignisse aus der Zeitstrahlarbeit.

Globale Zusammenhänge und individuelle Fallgeschichten zusammenbringen

Die Kleingruppenarbeit mit Fallbeispielen hingegen ermöglicht es, anhand konkreter Geschichten die globalen Ungleichheitsverhältnisse und ihre Auswirkungen nachzuvollziehen. Da ist z.B. die Geschichte von Prince Bony aus Ghana, die u.a. in der Zeitung Le Monde diplomatique erzählt wurde. Lange hat er als Tomatenbauer in Ghana gelebt, er hatte eine kleine Farm, von der er sich und seine Familie ernähren konnte. Als Ghana im Jahr 2000 unter Druck des Internationalen Währungsfonds Strukturreformen einführen musste, wurden auch die Märkte für internationale Konkurrenz geöffnet. Die Tomaten von Prince Bony waren gegenüber den Produkten, v.a. Tomatenmark aus den USA und der EU, nicht konkurrenzfähig. Prince Bony verlor seine Lebensgrundlage und beschloss nach Europa zu gehen, dort landete er als illegalisierter Erntehelfer auf einer italienischen Tomatenfarm, um Geld zu verdienen. Unter von Italien und der EU aufgrund fehlender Kontrollen praktisch geduldeten menschenunwürdigen Arbeits- und Wohnbedingungen erntet er dort Tomaten für einen Agrarkonzern. Der Agrarbetrieb lebt von der Ausbeutung Illegalisierter, denen jeder menschenrechtliche Schutz verweigert wird, und erhält aufgrund seiner großen Flächen massive EU-Subventionen durch die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik. Auf diese Weise können die Tomaten so billig produziert und weiterverarbeitet werden, dass sie trotz der weiten Transportwege etwa lokale Produkte in Ghana niederkonkurrieren. – Anhand von Leitfragen analysieren die Teilnehmenden die Geschichte mit einem menschenrechtlichen Bezugsrahmen und stellen die Ergebnisse im Plenum vor.

Mit solidarischen Handlungsperspektiven schließen

Das Thema Landwirtschaft spielt auch eine Rolle in der Auseinandersetzung mit den solidarischen Handlungsperspektiven, die den Workshop abschließen. Es ist wichtig, mit ermutigenden Beispielen zu schließen und einen kleinen Teil der existierenden Vielzahl häufig leider relativ unbekannter global und lokal agierender solidarischer Aktionen, Initiativen und Organisationen in den Blick zu nehmen – denn: Die Welt ist groß. Rettung lauert überall. Wer kann sich etwa an den Internationalen Kongress für Bauernrechte erinnern, der 2017 in Schwäbisch Hall stattgefunden hat, bei dem aus mehr als 50 Ländern über 400 Kleinbäuer*innen, Fischer*innen, Hirt*innen, Imker*innen, Indigene, Migrant*innen und Saisonarbeiter*innen zusammenkamen, um eine UN-Deklaration für die Rechte von Kleinbauern auf den Weg zu bringen?

Literatur:

Bielefeld, Heiner (2006): Menschenrechte als Antwort auf historische Unrechtserfahrungen; in: Deutsches Institut für Menschenrechte: Jahrbuch für Menschenrechte 2007

Fritzsche, Karl-Peter (2109): Menschenrechtskultur und Menschenrechtsbildung in Zeiten großer Flüchtlingsbewegungen; in: Mario Förster et al (Hg.): Angegriffene Demokratie? Zeitdiagnosen und Einblicke

Krennerich, Michael (2013): Soziale Menschenrechte. Zwischen Recht und Politik


Autor:

Manuel Glittenberg, 07.2019

Kontakt Autor

Manuel Glittenberg, Projektmitarbeiter
E-Mail: manuel.glittenberg@degede.de

Termin

Der nächste Workshop findet am 12. November 2019 in Heppenheim statt.
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